„Die Literatur der 1920er-Jahre“ – Einführung von PD Dr. Kristin Eichhorn, Universität Stuttgart
Die Literatur der 1920er-Jahre ist ausgesprochen mannigfaltig. Das ist kaum verwunderlich vor dem Hintergrund der politisch-gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, unter denen sie entsteht: Gerade erst ist der Erste Weltkrieg zu Ende gegangen und nach dem Kaiserreich entsteht mit der Weimarer Republik ein demokratischer Staat, indem sich aber schon bald die einander gegenüberstehenden politischen Lage radikalisieren. Straßenkämpfe zwischen Nationalsozialisten und Kommunisten stehen neben der Jazzkultur der ‚Goldenen Zwanziger‘. Das moderne Leben in der Großstadt mit seinen zahlreichen Unterhaltungslokalen wird zum Sehnsuchtsobjekt. Ein neues Frauenbild – der kurzhaarige Flapper ohne Korsett und mit eigener Erwerbstätigkeit etwa als Telefonistin – entsteht. Auf der anderen Seite aber prägen soziale Probleme das Bild, die spätestens mit der Wirtschaftskrise unübersehbar werden. Im Leben des ‚kleinen Mannes‘ scheitern die großen Träume oft an der Realität, in der man sehen muss, dass das Einkommen zum Überleben reicht.
All das und mehr kommt in der Literatur der Zeit zum Tragen. Gerade am Anfang der 1920er-Jahre dominieren noch expressionistische Stimmen. So ist die berühmte von Kurt Pinthus herausgegebene Gedichtsammlung „Menschheitsdämmerung“ 1919 erschienen und wirkt in den 1920er Jahre nach. Auch der filmische Expressionismus spielt sich vor allem in diesem Jahrzehnt ab. Expressionistische Kunst und Literatur sind bestimmt vom mit starkem Pathos vorgetragenen Heraufbeschwören einer neuen Zeit, die die alte ablösen soll. Dabei wird im entfremdeten und schnellen Großstadtleben ambivalent einerseits die Rettung, andererseits die Krise gesehen. Alles neu macht expressionistische Literatur auch formal: Die traditionellen Gesetze der Grammatik scheinen aufgehoben, zahlreiche Wortneuschöpfungen, logische Brüche und effektvolle Schockelemente dominieren die Texte.
Hinzu kommen avantgardistische Einflüsse aus dem Ausland. Aus der Rezeption der Oktoberrevolution und des russischen Agitprop entstehen auch in Deutschland neue kollektivistische Theaterformate und Theatertruppen wie die Piscator-Bühne und das epische Theater. Parallel blühen im Theater, aber auch in anderen Formaten Dokumentarismus und Reportage, die aber wie Erwin Egon Kirschs „Rasender Reporter“ (1925) ebenfalls das Bewusstsein ihres Publikums für aktuelle Probleme schärfen wollen. Zeitstücke und Zeitgedichte ergänzen diese Tendenz.
Im Laufe der 1920er-Jahre wird der Ton in der Literatur nüchterner. Mit der „Gruppe 1925“ und der Entstehung der Neuen Sachlichkeit. Hier entstehen zahlreiche heute noch verbreitete Romane von Irmgard Keun oder Hans Fallada. In der Lyrik bildet sich das neue Genre der Gebrauchslyrik heraus: Gedichte sollen wie z.B. Arznei in den Alltag ihrer Leser*innen integriert und ‚gebraucht‘ werden. Auf kunstvolle Ausschmückungen wird verzichtet. Alltagssprache und Schlagerzitate finden ihren Weg in die Literatur.
Literatur erhält mit Film und Hörfunk neue mediale Konkurrenz, greift aber die neuen technischen künstlerischen Ausdrucksformen auch auf und entwickelt neue Erzähl- und Ausdruckweisen, die etwa an die Schnitttechnik des Films angelehnt sind. Aus Film und Bildender Kunst übernimmt sie die Montage heterogenen Materials. Der Hörfunk wird ein neuer Ort der Verbreitung von Literatur und bringt neue Formate wie das Hörspiel hervor.
Die Frage, was Literatur dabei inhaltlich sagen darf und inwiefern sie als propagandistisches Medium zensiert werden muss, bestimmt die öffentliche Debatte. Immer wieder gibt es Prozesse und Proteste gegen Zensurentscheidungen. Literatur und Gesellschaft sind in den 1920er-Jahren untrennbar miteinander verknüpft. Literatur will modern sein und als Stimme ihrer Zeit sprechen und sie tut es in einer Vielseitigkeit, die immer wieder neu zu entdecken ist.